Wirtschaftsspiegel Thüringen Ausgabe 06/2013 - page 12

Fach- & Führungskräfte
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Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist eine allseits bekannte Größe. An ihm orientieren sich nicht nur volkswirtschaftliche Diskussionen,
sondern auch darüber hinausgehende politische Bewertungen der Entwicklung unseres Landes. Wird das BIP dabei jedoch als Indikator
für die qualitativen Veränderungen unserer Lebensumstände wahrgenommen, stellt dies eine erhebliche Fehlinterpretation dar. Denn
soziale und ökologische Kosten der wirtschaftlichen Entwicklung können im BIP nicht berücksichtigt werden.
Ein Gastbeitrag von
Anja Siegesmund, Fraktionsvorsitzende von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Thüringer Landtag
Wirtschaftswachstum und
gesellschaftliche Verantwortung
Ein anschauliches Beispiel für das Pro-
blem bietet jeder Autounfall: Das BIP
wird durch Abschlepp- und Reparatur-
kosten sowie durch Ersatzbeschaffung
gesteigert, zugleich aber werden Folge-
kosten durch Krankenhausaufenthalte
und Arbeitsausfälle generiert, Ressour-
cenverbrauch und Umweltbelastung
gesteigert. Ein anderes Beispiel hat uns
das Juni-Hochwasser 2013 klar vor
Augen geführt: Flächenversiegelung
und Bebauung in Flussnähe führten in
den vergangenen Jahren zunächst zu ei-
nem Anstieg des BIP. Es wurde „in die
Hände gespuckt“, fleißig wurden Flüsse
betoniert, begradigt und dem techni-
schen Fortschritt entsprechend „gesi-
chert“. Drei sogenannte Jahrhunderthochwasser spä-
ter sind die volkswirtschaftlichen Schäden in mehre-
ren Milliardenbeträgen zu besichtigen. Die Beräumung
wird, nach einer kurzfristigen Unterbrechung, wieder
zur Erhöhung des BIP beitragen. Doch dies sagt ganz
offensichtlich nichts über die gesamtgesellschaftli-
chen Kosten des bisherigen Umgangs mit den Flüssen
oder gar über das Wohlergehen der Bevölkerung aus.
Die Problematik der mangelnden Aussagekraft ökono-
mischer Kennzahlen für gesellschaftliche Entwick-
lungen wurde mittlerweile auf verschiedenen natio-
nalen und internationalen Ebenen diskutiert. Der Ruf
nach alternativen Berichterstattungen wird immer lau-
ter. Schon Simon Kuznets, einer der geistigen Väter
des BIP, warnte ausdrücklich vor einer Über- oder
Fehlinterpretation des BIP für die Politik und forderte
dazu auf, bei Wachstum zwischen
Quantität und Qualität, Kosten und
Nutzen, kurzfristigen und langfristigen
Effekten zu unterscheiden. Dement-
sprechend hat etwa die Französische
Regierung unter Vorsitz von Nobel-
Preisträger Joseph E. Stiglitz 2008 eine
Kommission installiert, die untersuchen
sollte, wie Wohlstand und sozialer
Fortschritt künftig gemessen werden
sollen. Ebenso diskutierte auch der
Deutsche Bundestag in einer Enquete-
Kommission parteiübergreifend Wachs-
tum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege
zu nachhaltigem Wirtschaften und ge-
sellschaftlichem Fortschritt in der
Sozialen Marktwirtschaft, konnte sich
Grafik: Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft e. V. / Institut für interdisziplinäre Forschung Heidelberg
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